Locanda Barbarossa (Mattias Roock) - Ascona

Locanda Barbarossa (Mattias Roock) - Ascona

Von lokalen Produkten geprägte Spitzenküche existiert nicht erst, seitdem sie ein paar (inzwischen weltberühmte) nordische Restaurants auf die Frontseiten des Feuilleton und damit in die Köpfe der Allgemeinheit geschleudert hat. Ganz im Gegenteil. Bis es moderne Fortbewegungsmöglichkeiten zuliessen, frische Produkte von immer weiter her ins eigene Restaurant schippern zu lassen, war Regionalität die Norm. Doch die Zeiten änderten sich. Und mit ihr nicht nur die Wünsche der Köche, sondern vor allen Dingen auch diejenigen ihrer Gäste. Das Bedürfnis nach Neuem und Exotischem wuchs und brachte die kulinarische Welt an den Punkt, an dem sie sich momentan befindet. Im Guten wie im Schlechten.
Mattias Roock, Executive Chef des Castello del Sole in Ascona und Herr über den im Haus untergebrachten Einsterner Locanda Barbarossa, macht sich, wie immer mehr seiner Zeitgenossen, viele Gedanken darüber, was er in der Küche anstellt. In einem Hotel dieser Grösse und Klasse wird natürlich ein breitgefächertes und abwechslungsreiches Angebot erwartet, das Gross und Klein der betuchten Klientel zufriedenstellt. Entsprechend gibt es im Prestige-Restaurant auch Gerichte mit Foie gras, in der Salzkruste gebackenen Wolfsbarsch oder eine Tranche Steinbutt auf der Karte zu finden. Doch das Herzstück von Roocks Küche ist das Menü “Sapori del nostro Otro” - die Geschmäcker unseres Gartens. Wer dabei an ein paar Beete, in denen Kräuter und ein wenig Gemüse gezogen werden, denkt, liegt ziemlich weit daneben. Denn rund um das Hotel liegen nicht weniger als 14 Hektar aktiv bestellter Agrikulturfläche. Doch damit nicht genug, denn insgesamt gehören 150 Hektar (!) zur hauseigenen Gesellschaft. Dazu liegt auch noch der Lago Maggiore wortwörtlich direkt am Hotel - schmucker Privatstrand inklusive. Viel bessere Voraussetzungen, um die kulinarische Identität einer Region zu präsentieren, gibt es wohl kaum. Was der Chef so alles aus den Schätzen der eigenen Aufzuchten erschafft, erfahre ich in den kommenden Stunden. Serviert wird im lauschigen Innenhof der Locanda. Im Tessin geht das selbst im Oktober noch problemlos.

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Drei Canapés erscheinen zeitgleich. Als erstes widme ich mich einem Cracker, bestehend aus dem lokalen Mehl aus gerösteten Maiskörnern namens Farina Bona, der belegt ist mit fermentiertem Rotkohl, Kastanie und einer Hagebuttencreme. Dieser Happen will den Gast nicht nur möglichst gefällig willkommen heissen, sondern zeigt direkt, in welche Richtung der Lunch gehen wird. Geschmacklich zwar einerseits vertraut und für unkomplizierten Genuss sorgend, dabei aber mit reichlich versteckter Komplexität. Handwerklich anspruchsvoll und Eindruck hinterlassend dank hochakkurater Feinjustierung. Und das ist ja erst der allererste Happen…

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Die zweite Petitesse ist zwar ebenfalls knusprig, steht dem ersten geschmacklich jedoch fast diametral gegenüber. Quinoa Cracker, Felchen vom See, Yuzu-Zitronengel und Pepquino Gurke zeichnet sich durch eine superbe, in dieser Form selten erlebten Fischqualität aus. Ein unfassbares Produkt, direkt aus dem nur nur wenige Meter entfernt liegenden See. Dem spielt die herbe Frische des Gels sowie die knackig-sommerliche Gurke gekonnt zu und trägt das Fleisch nahezu perfekt. Zusätzlich bietet der Quinoa neben seinem Crunch eine subtile Nussigkeit, die den Eigengeschmack des Fischs betont. Erneut grosse Klasse.

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Und obwohl sich auch der letzte Snack wieder um das Thema Knusprigkeit dreht, schafft es die Küche, einmal mehr zu verblüffen. Piora-Alpkäse-Chip, Piora Rohschinken, Käseespuma und Bergkräuter schlägt in die herzhafte Kerbe, ist angenehm salzig und kräuterig, geprägt vom einnehmend leckeren Käse und macht ganz einfach rundum glücklich. Roock sollte diesen Chip in Serie produzieren, in Tüten abfüllen und verkaufen, damit man abends auf der Couch endlich mal was richtig Gutes naschen kann. Am besten produziert er auch die anderen beiden Amuses in Serie. Was für ein Auftakt-Trio!

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Bevor das Menü beginnt, grüsst der Chef noch ein letztes Mal. Perlhuhn, Apfel und Haselnuss setzt einen ganz klassischen und sehr vertrauten Akkord. Vermuten könnte man gepflegte Langeweile, doch weit gefehlt. Die Produkte sind wieder erstklassig, die Feinjustierung enorm präzise, dazu ist das Ensemble dank der Säure des Apfels herrlich leicht. Was angesichts der Leber ziemlich ungewöhnlich anmutet. Pure Wonne ist, sich diese Kreation einzuverleiben. Wenn das so weiter geht, wird das ein wahrlich unvergesslicher Lunch.

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Nach einer kurzen Pause wird der erste Gang Seeforelle, bunte Bete, Nashi Birne, Szechuan Pfeffer serviert. Welch eine Augenweider dieser Teller doch ist. Da freut man sich beinahe doppelt, gleich richtig einzutauchen. Allerdings suggeriert die kleinteilige Optik auch ein mögliche Überladung. Eine Befürchtung, die sich bei der ersten Gabel direkt zerschlägt. Die Küchencrew der Locanda Barbarossa arbeitet mit uhrmacherischen Präzision, einfach Wahnsinn. Denn obwohl auf dem Teller durchaus viel los ist, steht der Fisch - natürlich aus dem See direkt hinter dem Hotel und natürlich wieder von schier unheimlicher Güte - im Mittelpunkt. Alles andere würde bei einem solch grandiosen Produkt auch an Frevel grenzen. Die Untermalung erweist sich dabei als sehr vielschichtig, jedoch zu keinem Zeitpunkt überfordernd. Eine subtile Süsse schwingt ebenso bei jedem Bissen mit wie eine Struktur verleihende Erdigkeit. Dazu ein ganz subtiler Kick durch den Szechaun Pfeffer sowie etwas Umami, das von den Algen herrührt, in die das Fischmosaik verpackt ist. Unvorstellbar lecker und natürlich eine unumgängliche Addition in die Hall of Fame von The Important Stuff.

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Weiter geht’s mit einem Schaumsüppchen von der Magadino Wachtel, Wachtelei, knuspriges Confit und Steinpilze. Obwohl die Herbstsonne heute ordentlich Wärme versprüht, passt die Suppe ganz wunderbar als Übergang in die zumindest etwas kühlere Jahreszeit. Am Tisch angegossen verströmt die Suppe bereits einen wunderbar intensiven Duft und zeigt durch die aufsteigenen Dampfwölkchen, dass mich ein heisses Vergnügen erwartet. Ich probiere zuerst die Suppe, deren Bezeichnung eine fast schon freche Untertreibung ist. Elixir wäre sicherlich treffender. Kräftig, samtig, hochelegant, ganz einfach umwerfend gut. Schon wieder. Eigentlich bräuchte ich nur einen Topf davon sowie einen grossen Löffel dazu, um den Rest des Lunchs dümmlich grinsend und laut schlürfend am Tisch zu verbringen. Doch natürlich erkunde ich auch die Einlagen. Die verschiedenen Komponenten wie die sehr zarte Brust und das knusprige Confit bringen etwas texturelle Abwechslung ins Spiel und auch eine nicht zu unterschätzende, fleischige Umami-Power, die im Rahmen der vorherrschenden Eleganz für ganz ordentlich Wumms sorgt. Erneut ein rundum gelunger Gang, der nicht nur für stille Begeisterung sorgt.

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Einer der Höhepunkte der unzähligen Produkte aus Eigenanbau ist sicherlich der Reis. Man baut als einer der nördlichsten Produzenten der Welt hauptsächlich die Sorte Loto an. Ein Langkornreis, der sich sehr gut zur Zubereitung von Risotto eignet. Roock bedient sich der traditionellen Tessiner Küche und erschafft daraus den als “Unser Loto Risotto” betitelten Gang mit Kürbis, Ziegenfrischkäse aus dem Verzasca Tal und schwarzen Baumnüsse. Der Stein, in dem der Risotto serviert wird, stammt übrigens ebenfalls aus der Maggia und wird von einem Lokalen Steinmetz veredelt, um ihn als Geschirr nutzen zu können. Bevor der Risotto darin angerichtet wird, wandert der Stein für einige Zeit in den Ofen, um dem Reis eine warme Unterlage bieteten zu können, damit dieser seine Sämigkeit bewahren kann. Der ganze Aufwand lohnt sich, denn das Resultat ist spektakulär. Jedes Reiskorn ist einzeln sichtbar, perfekt gegart, weich aber dennoch mit Biss. Der herrlich zarte, cremige und leicht säuerliche Käse, der dem Ganzen eine dezente Opulenz verleiht. Der Kürbis, knackig und ebenfalls leicht säuerlich, dazu etwas kräftiges Kürbiskernöl und nussige Kürbiskerne, und natürlich die eingemachten Baumnüsse, die eine herbe Nussigkeit einstreuen. Das ist erneut so lecker, dass mir so langsam aber sicher die Superlative ausgehen. Es macht sich in mir der Wunsch breit, einfach sitzen zu bleiben, eine nette Flasche (oder zwei) öffnen zu lassen, um später nahtlos mit einem Dinner anzuknüpfen. Doch zuerst geht’s mal noch mit dem Lunch weiter.

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Eigentlich wäre an dieser Stelle bereits der Hauptgang vorgesehen. Doch einerseits möchte ich nicht, dass der herzhafte Teil des Menüs bereits endet und andererseits hat sich während des Essens ein Heisshunger auf Pasta in mir breit gemacht, der nun gestillt werden muss. Sergio Bassi, Maître und Sommelier der Locanda Barbarossa, hört sich mein Anliegen in Ruhe an und empfiehlt dann mit einem schelmischen Grinsen die Rindfleisch-Brasato Ravioli mit Buchenrasling, Nussbutterschaum und Kräuteröl. Ganz beiläufig sagt er noch, dass dies die besten Ravioli der Welt seien. Eine durchaus kühne Behauptung. Mal schauen, ob sie sich bewahrheitet. Bereits der Duft, der beim Servieren vom Teller aufsteigt, ist verheissungsvoll. Er ist jedoch kein akkurater Vorbote für die Grossartigkeit dieser unscheinbaren Pasta. Es wird augenblicklich klar, dass die Aussage von Maitre Bassi zumindest keine unverhohlene Lüge war. Der elastische, hauchdünne Teig, die saftig-zarte und würzige Füllung, die Opulenz der Nussbutter, das gleichzeitig auflockernd wirkende und Komplexität verleihende Öl – in Summe ergibt das erneut ein Gericht nahe an der Perfektion. Ob es nun wirklich die besten Ravioli der Welt sind, kann ich nicht abschliessend beurteilen. Exemplare zu finden, die diese um Längen übertreffen, dürfte allerdings reichlich schwierig sein.

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So, spätestens mit dem Hauptgang muss es jetzt aber einen Dämpfer geben. Oder etwa nicht? Aufgetragen wird ein Tessiner Dry Aged Limousin Rind mit Aubergine, Spitzpeperoni und “unsere weisse Polenta”. Rotes Fleisch, braune Sauce, Gemüse, Sättigungsbeilage, alle Zutaten für öde Trivialität sind gegeben. Doch Roock umschifft dank der schieren Qualität der Zutaten - das Rind ist ein perfekt zubereiteter Hochgenuss - und einer spannenden, orientalisch angehauchten Einfassung sogar die Hauptgang-Langeweile gekonnt. Zwar bewegt sich diese Kreation nicht ganz auf demselben Level wie das bisher Gezeigte, bereitet aber soviel Spass, dass ich voller Freude restlos alles aufesse.

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Als kleine Überraschung wird nun ein Käsegang serviert, der liebevoll als Käseschnitte annonciert wird. Am Tisch wird über den sowieso schon appetitlich-würzig riechenden Toast mit geschmolzenem Taleggio noch sehr grosszügig weisser Alba Trüffel gehobelt. So sollte mein tägliches Frühstück von nun an bitte aussehen. Man braucht hierzu nicht viele Worte zu verlieren. Simple Perfektion.

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Ein erfrischendes Pré-Dessert bestehend aus einem Uva Americana Sorbet, Joghurt-Espuma und Cantuccini als texturgebende Krümel leitet charmant und unprätentios in den Schlussakt des Lunchs über.

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Unsere Feigen, Tessiner Joghurt, Wiesenblütenhonig und Zitronenthymian spielen beim Dessert eine mehr oder weniger prominente Rolle. Im Vordergrund stehen ganz klar die enorm reif schmeckenden Feigen sowie der Honig. Das Zusammenspiel dieser beiden dominierenden Aromen schlittert beim ersten Bissen haarscharf an der Grenze zur klebrigen Süsslichkeit vorbei, doch nach und nach macht sich der Joghurt bemerkbar, der die Zuckrigkeit mit seiner Frische aufbricht. Dadurch wird die nötige Balance geschaffen, um das Ganze schön rund zu gestalten. Den Zitronenthymian nehme ich nur in Nuancen wahr, was aber sicher genauso gewollt ist. Denn so gibt er dem Dessert immer wieder einen zarten Hauch herber Mystik, ohne sich zu sehr in den Vordergrund zu drängen. Ein absolut würdiger Menü-Abschluss…

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… auch wenn mit den Petits Fours zum Espresso noch eine kleine aber feine Zugabe kommt. Im Detail sind das ein Schokoladen-Profiterole, Ein Pistazien-Financier mit Mini-Kiwi sowie eine Zitronen-Yuzu-Roulade.

Strahlend wie die sich heute von ihrer schönsten Seite zeigende Herbstsonne und fast schon taumelnd vor Freude (nicht von der hervorragenden Weinbegleitung) verlasse ich den lauschigen Innenhof und lasse bei einem kurzen Spaziergang im imposanten Garten des Castello del Sole den Lunch Revue passieren. Was Mattias Roock und seine Mannschaft heute vom Stapel gelassen haben, hat mich nicht nur einfach begeistert, sondern zutiefst beeindruckt und bewegt. Das Mittagessen in der Locanda Barbarossa hat mir einen dieser raren Momente beschert, nach denen ich als unermüdlich Suchender in der Welt feinster Kulinarik geradezu giere. Die Zutaten, die solche unvergesslichen Erlebnisse erzeugen, sind dabei eigentlich immer dieselben. Nur kommen sie eben sehr selten in einer Konstellation zusammen, dass sie für pures, unverfälschtes Glück sorgen. Heute war so ein Moment. Hervorragende Produkte. Bemerkenswertes Handwerk. Umsichtig arrangierte und im besten Sinne unaufgeregte Kreationen. Ganz einfach - oder besser gesagt eben eigentlich sehr schwierig - beeindruckende Qualität auf allen Ebenen. Zwischen meinem Lunch und dem Erscheinen des Guide Michelin Schweiz 2020 (alle Restaurants des aktuellen Schweizer Guides gibt hier) lagen einige Monate. Nach meinem Besuch in Ascona war für mich eine Aufstufung auf zwei Sterne alternativlos. Doch leider war der Michelin offensichtlich noch nicht bereit, die Grossartigkeit von Roocks Küche ihrer Leistung entsprechend zu würdigen. Ein Fehler, der im nächsten Jahr korrigiert gehört. Denn die Locanda Barbarossa gehört definitiv zur kulinarischen Speerspitze der Schweiz und ist eines der am prächtigsten scheinenden Aushängeschilder im Tessin.


Locanda Barbarossa
im Castello del Sole Beach Resort & Spa
Via Muraccio 142
6612 Ascona
Schweiz
+41 91 791 02 02
Website


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