Vivanda (Dario Cadonau) - Brail

Der Winter zeigt sich im Unterengadin heute von seiner schönsten Seite. Die Fahrt von St. Moritz nach Brail gestaltet sich wie eine Reise durch eine weisse Postkartenidylle. Doch nicht nur die Anreise bedient jedes schöne Bergklischee, auch mein Ziel tut das. Von aussen sieht das Hotel In Lain (Rumantsch für "aus Holz") aus wie ein typsiches Berghotel. Sehr schön zwar, aber auch etwas bieder. Doch dieser Eindruck löst sich in dem Augenblick auf, in dem ich durch die Türe in die Empfangshalle eintrete. Helles, wunderbar duftendes Arvenholz nimmt Auge und Nase sofort in Beschlag. Innerhalb kürzester Zeit macht sich in mir ein tiefes Gefühl der Zufriedenheit breit, ich fühle mich wohl, willkommen und irgendwie zu Hause. Dabei stehe ich erst drei Schritte im Haus und die Tür hinter mir ist noch nicht mal ins Schloss gefallen. Ein rarer Moment, den ich wohl für immer im Unterbewusstsein abgespeichert haben werde.
Doch eigentlich bin ich ja zum Essen hier. Das Gourmetrestaurant Vivanda (es gibt noch zwei weitere Restaurants im Hotel), befindet sich im über 300 Jahre alten Gewölbe des ursprünglich als Bauernhaus erbauten Gebäudes. Doch die ersten Snacks werden heute in der lichtdurchfluteten Bar serviert. Zum Schaumwein mit lokalem Arvenholzsirup (!) wird der Baumstamm eingedeckt.

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Als erstes widme ich mich den vier Blättern: Shisoblatt mit Sesam und Reisessig - Chlorophyllblatt mit Aioli - Austernblatt mit fermentierter Zwiebel - Blatt vom Kürbiskernöl mit Kürbiskernpulver und geräucherter Butter. Der arg spielerische optische Eindruck bestätigt sich geschmacklich nicht. Alle Blätter sind hochfein gearbeitet, mit prägnantem Aromenprofil. Eine Apfel-Martini Kugel erfrischt angenehm, während der Sbrinz Marshmallow eine ungewöhnliche Mariage von Geschmack und Textur aufzeigt. Die flüssige Bruschetta mit gebratener Riesenkrevette schmeckt ebenfalls vorzüglich. Ein überraschender und sehr gelungener Auftakt.

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Nach dem gelungenen Start werde an den Chef's Table geführt, der sich einen Stock tiefer in einem separaten Gewölbe neben dem Weinkeller befindet und der durch einen tiefen Archenbogen den Blick auf die Küche freigibt. Die Wohlfühloase setzt sich sich auch hier fort. Ein sehr intimer Raum und einfach wunderschön. Mein Staunen wird kurz darauf von der Brotauswahl unterbrochen: Kürbis, Rande und Walnuss, Sauerteig und Malzbrot.

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Es folgt ein erstes Amuse: Gänseleber und Arven-Harz, geröstete Pinienkerne, Erdbutter und Sauerklee. Schon der erste Biss der Fettleber (oben rechts im Bild, hinter dem Glasstiel als Arvenzapfen versteckt) zeigt, dass bei diesem Gang jegliche Sorge um ein weiteres, langweiliges Foie-Gericht unbegründet ist. Schon alleine die Qualität der Leber ist phänomenal. Die ungewöhnliche Einfassung sorgt für ein höchst schmackhaftes und abwechslungsreiches Gericht, das geschickt ein klassiches Luxusprodukt und lokale Aromenvielfalt verbindet. Vor allem das ultra-intensive Arven-Harz in Kombination mit der Foie sorgt für ungläubiges Staunen. Der beste kalt servierte Gänselebergang seit Langem.

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Ganz unscheinbar wirkt der nächste Gruss aus der Küche. Berglaub: Olivenerde, Seeigel und Blätter führt das Konzept des Menüeinstiegs fort - Luxusprodukt (in diesem Fall der Seeigel) kombiniert mit bescheidenen einheimischen Produkten (die Oliven zähle ich da mal noch dazu, da Italien nur einige Kilometer Luftlinie entfernt liegt). Und es funktioniert sogar noch besser als zuvor. Die zwischen knusprig und nassem Laub changierenden Blätter sind für sich genommen bereits spannend, doch so richtig grandios wird es immer dann, wenn ein Tupfer der jodigen Seeigelcreme mit den Weg in meinen Mund findet. Diese Symbiose aus Land und Meer ist gigantisch gut. So gut, dass ich mich augenblicklich festlege: das ist eines der besten Amuse Bouche, das mir jemals serviert wurde. Wow!

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Der nächste kleine Happen ist ein Apfel-Nuss-Sandwich. Ein luftig-knuspriger Teig ist gefüllt mit einer süffigen Nusscreme und kleinen Apfelstückchen. Scheinbar simpel, wirkt auch dieser Ein-Biss-Happs lange nach. Die geschmackliche Intensität gepaart mit der fragilen Textur - ein Traum.

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Den offiziellen Menüstart machen Engadiner Flechten, Pioppini-Pilze und Algen. Die zu "Nudeln" verarbeiteten Algen harmonieren prächtig mit den delikaten Pilzen und den "waldigen" Flechten. Dazu gesellt sich noch etwas Taube, die in einem knusprigen Bällchen eingefasst ist. Spielerische Neugierde in einem texturell spannenden und geschmacklich harmonischen Gericht vereint. Sehr gut. Da wünsche ich mir doch glatt eine etwas grössere Portion. Doch es kommt ja noch ein bisschen was...

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Kleinteilig und ohne klaren Hauptdarsteller geht es mit dem zweiten Gang weiter: Lärchenholz-Ristretto, Pilz-Duxelles und Haselnüsse, Fasanen-Parfait, Moos-Schwamm und Haselnussöl, Schokoladenblatt und Arven-Essig-Schnee. Nachdem ich alles durchprobiert habe, moniere ich innerlich kurz die fehlende Stringenz. Doch wenn ich die, in meinen Augen, einzige vernachlässigbare Komponente (den Moos-Schwamm) aussen vor lasse, macht es plötzlich Sinn. Der Ristretto, eine stark reduzierte Pilzconsommé, ist ein wuchtig-elegantes Elixier, das mit seiner erdigen Schönheit ideal zum Parfait in Form einer falschen Walnuss überleitet. Hier überwiegt im ziemlich fettigen Schmelz ein buttrige Opulenz insgesamt ein wenig zu stark - dennoch lecker. Die falsche Nuss schlägt gekonnt das Rad zum Schokoblatt, das mit seiner Mixtur aus Süsse und einer leicht herben Note unerwartet komplex ist - und so ganz nebenbei den Kreis zum flüssigen Schälchen schliesst. Als Quasi-Rachenputzer fungiert abschliessend der Arven-Essig-Schnee. Vielfältig und (in grossen Teilen) ausgezeichnet.

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Wie eine scheinbare Abkehr vom bisherigen Konzept wirkt nun das Kombublatt mit mariniertem Bretonischem Hummer, Sepiatagliatelle, Salicornes, Miesmuschelemulsion, Zitrus-Kaviar und Algensalat. Doch obwohl dieser Gang ohne erkennbare Bergkomponente auskommt, bleibt die maritime Komposition erstaunlicherweise klar im Geschmacksuniversum von Dario Cadonau verortbar. Elegant, wuchtig, kurzweilig. Dank der tollen Produktqualitäten und der fein austarierten Aromen und Texturen ein eher unerwartetes Highlight.

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Vegetarisch geht's weiter mit einer Variation von der Karotte: Cornetto mit Ingwer-Karottenschaum und Malzerde, Karotten-Yuzu-Eis, Ponzu und Karottenstroh, Karottensteak und Gemüsejus und Karottenschleife mit Lakritze. Schon als der Service den Hauptteller vor mir abstellt, steigt eine betörende Grillnote in meine Nase. Das bissfest und dabei ultrazart gegarte "Steak", bestehend aus diversen Lamellen der Möhre, besticht durch einen eindringlichen, intensiven Geschmack, den ich in dieser Form vom bescheidenen Rüebli noch nie erlebt habe. Der unglaublich tiefe Jus, der mit auf dem Teller liegt, unterstreicht diese Komplexität und Kraft zusätzlich. Das ist ganz, ganz grosses Kino mit einfachsten Mitteln. Wie bei einem richtigen Steak sind die weiteren Beilagen auch ziemlich klar als solche zu verstehen. Ein deutlich asiatischer Einschlag wohnt dem Cornetto sowie dem Löffel inne, die beide als erfrischende Mitspieler fungieren. Lediglich der Karottenschleife kann ich nicht allzu viel abgewinnen. Muss ich aber auch nicht, denn die anderen Darsteller sind absolut bestechend. Grossartig und das nächste Glanzlicht!

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Angenehm übersichtlich in der Portionierung der Hauptgang: Duett vom Reh, fermentierter Rotkrautsaft, Brotcreme, Waldbeerleder und Waldbeerpulver. Hier hält sich die Küche was die unterschiedlichen Elemente angeht ein wenig zurück, was dem Teller überaus gut zu Gesicht steht. Das Reh ist von sensationeller Qualität, zart und eher subtil als kräftig. Durch die Brotcreme erhält das Wild eine solide (Sättigungs-)Unterlage und wird durch das Rotkohl und die Beeren fast schon klassisch eingefasst. Die intensiv fruchtigen und mit einer stattlichen Säure ausgestatteten Beerenelemente bringen eine herrliche Leichtigkeit ins Gericht und sorgen erneut für einen veritablen Höhepunkt. Einer der besten Hauptgänge, die ich in letzter Zeit geniessen durfte.

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Nach dem Hauptgang darf ich mir ein wenig die Beine vertreten. Dario Cadonau führt mich in den fantastischen Käsekeller, in dem heute gut 50 (!) verschiedene Sorten zur Auswahl lagern. Einer prächtiger als der andere, alle optimal gereift. Eine wunderbare Tradition der Haute Cuisine, die hoffentlich nie verloren geht, und die ich noch nie so unprätentios und gleichzeitig schön präsentiert gesehen habe (das Foto kann leider nicht die ganze Pracht des Kellers wiedergeben). Zurück am Tisch werden die ausgesuchten Käse mit diversen Begleitern serviert. Da ich bekanntlich eher Purist bin, wenn es um Käse geht, statte ich allen Begleitern lediglich einen Höflichkeitsbesuch ab, um mich voll und ganz den gereiften Schönheiten widmen zu können. Bei meiner Besuchsrunde stolpere ich jedoch über einen Pfirsichhonig, der so verdammt lecker ist, dass davon auch noch etwas auf dem Käseteller landet. Es braucht so wenig um (kulinarisch) glücklich zu sein - und genau das liegt gerade vor mir auf dem Teller.

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Schokoladenaufschlagganache mit gesalzenem Karamell und einem Passionsfrucht-Schokoladen-Crumble läutet den letzten Teil des Lunchs ein. Für die Patisserie zeichnet sich im Gourmetrestaurant Vivanda Nadja Hartl verantwortlich, deren Kreationen ich schon bei Sven Elverfeld im dreifach besternten Wolfsburger Aqua geniessen durfte. Ihr Einstieg fällt fruchtig und süss aus. Das isst sich ziemlich simpel, schmeckt grundsätzlich gut, ist aber nichts, was lange in Erinnerung bleibt. Nach den teilweise ziemlich komplexen Gerichten zuvor, kommt mir das aber eigentlich gerade gelegen.

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Ganz anders dann der Winterapfel: Apfelkompott, Haselnusseis, geröstete Haselnüsse und Eierlikör-Espuma. Diese mittlerweile zu den Klassikern der gehobenen Patisserie gehörende Präsentation zeigt hier ihr bestes Gesicht. Weihnachtliche, wärmende Aromen, nicht zu süss, texturell abwechslungsreich in Szene gesetzt - überzeugend auf ganzer Linie. Gleichzeitig zeigt Hartl hier auch, dass (zu) oft gegessene Interpretationen ein und derselben Idee, bei einer perfekten Umsetzung wie dieser, nach wie vor bezaubern können.

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Üppig die abschliessenden Petits Fours: Nuss, Pflaume und Malz - Weisse Schokolade, Kokos und Mango - Cassis und Joghurt - Marone und Orange – Birne und Schokolade. Trotz beträchtlicher Sättigung kann ich den sehr fein gearbeiteten Petitessen nicht widerstehen. Ein exzellenter Schlusspunkt.

Dario Cadonau und sein Team haben mich überaus positiv überrascht. Schon beim Betreten des Hotels fühlte ich mich sofort willkommen, ja beinahe zu Hause. Eine Seltenheit. Die Küche überzeugt durch höchst eigenständige Kompositionen, die in ihrer Kleinteiligkeit oftmals überladen wirken, geschmacklich jedoch (fast) immer Sinn ergeben. Hier hat jemand ganz klar seine eigene Küchensprache gefunden und feilt an seiner Version einer lokal verortbaren Hochküche. In Zukunft muss ich unbedingt öfters den Weg ins Unterengadin antreten, um die Entwicklung dieses grossartigen Kochs weiterzuverfolgen. Beim nächsten Mal dann mit Übernachtung in einem der einnehmend hübschen Hotelzimmer.


Gourmetrestaurant Vivanda
In Lain Hotel
Crusch Plantaun
7527 Brail
Schweiz
+41 (0)81 851 20 00
Website


Mein Besuch wurde vom Restaurant unterstützt.